1. Geschichte der Mittel gegen Haarverlust – vom Schlangenöl zur evidenzbasierten Medizin
Inhalt
1.1 Krokodilsfett und Beschwörungen – Auffassungen der frühen Hochkulturen
1.2 Scharfe Beobachtungen und ausphantasierte Rezepte
1.3 Ursachensuche im 19. und frühen 20. Jahrhundert
1.4 Hilflose Wissenschaft, schamlose Quacksalberei
1.5 Moderne Technik – im Dienste des Haarwuchses?
1.6 Wissenschaftlich getestet – eine Lektion aus der jüngeren Vergangenheit
1.7 Haar-Meilensteine des 20. Jahrhunderts
1.7.1 Haartransplantationen – von den ersten Versuchen zur ausgereiften Technik
1897: Das erste naive Experiment
1939: Dr. Okuda wird fast übersehen
1952-59: Dr. Orentreich geht es beinahe genauso
Ab 1980: Bemühungen um ein natürlicheres Behandlungsergebnis
1.7.2 Minoxidil: Das erste wirksame Haarwuchsmittel der evidenzbasierten Medizin
1.7.3 Finasterid
1.1 Krokodilsfett und Beschwörungen – Auffassungen der frühen Hochkulturen
Das Thema Haarverlust wird bereits in den ältesten überlieferten medizinischen Texten adressiert. Babylonische Tontafeln listen entsprechende Beschwörungen, und auf dem ägyptischen Papyrus Ebers (1550 v.Chr.) finden sich wohl die ältesten regelrechten Rezepte gegen schütteres Haar. Eins der Mittel verlässt sich auf die Macht von Igelstacheln. Ein weiteres kombiniert eine Paste zum Einreiben aus “rotem Ocker, Johannisbrot, Alabaster, Honig und der Das-was-der-Himmel-macht-Droge“ mit der Formel “O Erglänzender, der du niederstößt mit streitbarem Ausruf, o Sonnenscheibe – hüte Dich vor dem Herrn des Scheitels“ (soweit man das heute eben übersetzen kann; über den exakten Wortlauf der Beschwörung streiten sich die Gelehrten...).
Als hilfreicher Trunk gegen Haarausfall wurde der ausgepresste Sud gekochter Feigen und Wüstendatteln mit Ocker, Weihrauch und süßem Bier gemischt. Zum “Wachsenlassen der Haare eines Kahlen“ musste man schon zu stärkeren Mitteln greifen: Hier wurde “Fett eines grimmig blickenden Löwen, Nilpferdfett, Krokodilsfett, Katerfett, Schlangenfett und Steinbockfett“ benötigt.[1]
1.2 Scharfe Beobachtungen und ausphantasierte Rezepte
Hippokrates (um 400 v.Chr.), der Vater der modernen Medizin, selbst deutlich kahlköpfig, machte die wichtige Beobachtung, dass Eunuchen immerhin von Glatzen verschont bleiben. Wer jetzt das Opfer der Opfer erwägt: Eine 1960 erschienene wissenschaftliche Veröffentlichung stellte fest, dass eine Kastration bzw. Orchiektomie (das Entfernen der Hoden ist eine der Behandlungsmöglichkeiten bei fortgeschrittenem Prostatakarzinom, vermutlich der Grund, warum sich die 21 Studienteilnehmer zu diesem Schritt gezwungen sahen) das Entstehen von Glatze und Geheimratsecken zwar verhindert, aber bereits entstandene Schäden am Haaransatz nicht und in der Scheitelregion nur in ganz begrenztem Maße rückgängig macht. Sind bereits starke Haarverluste zu beklagen, wäre der extreme Schnitt also tatsächlich völlig umsonst...[2]
“Wenn eine kahle Glatze entstanden ist,“ empfahl Hippokrates stattdessen wahlweise Kreuzkümmel, Taubenmist, geriebenen Rettich, Zwiebel, Mangold oder Nesseln.[3]
Die phantasievollen Rezepte setzen sich über die Jahrhunderte fort. In seiner riesigen naturwissenschaftlichen Enzyklopädie “Naturalis historia“ erwähnt der römische Gelehrte Plinius der Ältere (77 n.Chr.) als Mittel gegen Glatzen “Stiergalle mit Alaun“, und zur Verdickung des Haares die “Asche des Geburtsgliedes eines Esels“.[4] “Zu Pulver gebrannte“ Blutegel, Maulwürfe, Bienen, Frösche sowie Eidechsenöl tummeln sich in einer medizinischen Schrift des Thüringer Arztes Christoph von Hellwig aka Valentino Kräutermann (um 1700). Ein nützlicher Hinweis, falls kein Eidechsenöl zur Hand: “Nimm grüne Eydechsen, so viel du hast, koche sie in Baumöl, bis sie zerfallen, setze es hernach 14 Tage oder 20 an die Sonne, so ist es gut.“[5]
1.3 Ursachensuche im 19. und frühen 20. Jahrhundert
Im 19. und frühen 20. Jahrhundert klingen medizinische Schriften schon mehr so, wie wir es gewohnt sind: Man bemüht sich um eine Hypothese zu den Ursachen des Phänomens (wobei man sich vorhandener Unklarheiten bereits recht deutlich bewusst ist), um dann Mittel anzubieten, die diese Ursachen bekämpfen sollen.
Die Hypothesen zu den Gründen des typisch männlichen Haarverlustes waren noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts breit gefächert. Sie reichten von verkrusteten Schuppen bzw. übermäßiger Fettproduktion der Talgdrüsen (“seborrhoische Affektionen der Kopfhaut“[6]) über mangelnde Durchblutung der Kopfhaut (“Sehr viel Wahrscheinlichkeit hat die Theorie, die der Überspannung der Schädelschwarte die Schuld am Auftreten der Alopecie zuschiebt, indem hierdurch eine Zufuhr von Nährstoffen durch den Blutstrom verhindert wird und die Haarfollikel durch Verödung absterben“[7], evtl. auch aufgrund des Tragens von Hüten oder Helmen) bis zu exzessiver oder wahlweise auch zu wenig Haarpflege.
Ebenfalls im Rennen: Die 1906 im Fachjournal “Physician and Surgeon“ veröffentlichte Theorie des Detroiter Arztes Delos L. Parker, Kahlheit resultiere aus einer falschen Atemtechnik. Bei zu flacher Atmung, so der Doktor, bilde sich ein Toxin in der Lunge, das in den Kreislauf gelangt und die Haarfollikel vergiftet. Einziges wirksames Mittel gegen Haarausfall sei demnach der Erwerb der richtigen Atemtechnik.[8]
Sein deutscher Kollege, der bekannte Dresdner Dermatologe Eugen Galewsky begegnete dieser Hypothese allerdings mit Skepsis...[9] Kurzum: Die wissenschaftliche Diskussion und Hypothesenbildung war in vollem Gange; der Erblichkeit der Alopezie war man sich im Übrigen bereits deutlich bewusst.[10]
1.4 Hilflose Wissenschaft, schamlose Quacksalberei
Seriöse Ärzte hatten damals zur Therapie des Haarausfalls nicht viel anzubieten: Galewsky zieht sich, als die Sprache darauf kommt, im Wesentlichen auf die Wichtigkeit einer gesunden Ernährung und Lebensweise zurück.[11]
Eine der ersten regelrechten Therapien gegen Haarausfall war das sekretionssteigernde und Muskeltonus-erhöhende Alkaloid Pilocarpin, zu dessen (Neben-)Wirkungen (bei haargesunden Personen) offenbar mitunter auch eine Steigerung des Haarwuchses gehört.[12]
Einige Ärzte setzten daher versuchsweise Pilocarpin-Injektionen ein, um Alopezie-Betroffenen zu helfen – ganz offenbar aber ohne bedeutsame Erfolge.
Galewsky bemerkt 1932: “Leider haben sich bisher im allgemeinen die Ärzte um die wissenschaftliche Seite dieser Frage wenig gekümmert und die Behandlung des Haarausfalls in den Händen der Friseure und der mit diesen gemeinschaftlich arbeitenden Haarwuchsmittelfabrikanten gelassen. Auf wenig Gebieten der Medizin macht sich deshalb eine so starke und widerwärtige Reklame geltend, wie auf dem des Haarausfalls. Die Zahl der Haarmittel, die in den letzten 40 Jahren empfohlen worden ist, ist Legion. <...> Von allen bisher mit Reklame empfohlenen Mitteln ist nicht eins wissenschaftlich ausprobiert, nicht eins hält der Kritik stand.“[13]
Eine zeitgenössische Analyse listet die Inhaltsstoffe von dutzenden dieser Wundermittel.[14]
Mit Glück ging der hoffnungsvolle Kunde damals mit parfümiertem Wasser oder Vaseline, Milchzucker oder mit “Frau Paula Joachims Haarkräutertee“ (“ist getrockneter, geschnittener an irgendeiner Waldstelle abgerissener Waldbodenbewuchs und enthält trockene Grashalme, verdorrte Laubblätter und viel Schmutz“)[15] nach Hause – mit Pech aber auch mit einer Flüssigkeit, die hautreizende Stoffe oder sogar giftiges Blei enthielt. Eins der bekanntesten Haarwuchsmittel, “Sebald's Haartinktur“ aus Hildesheim (“verhütet Haarausfall und Schuppen“), deutschlandweit mit einem Millionenbudget heftigst beworben (“besitzt Weltruf infolge ihrer außerordentl. Wirkung!“[16])[17], bestand aus einem alkoholischen Orangenschalenauszug, in dem Perubalsam, Opiumtinktur (!), Cantharidentinktur (eine hautreizende Substanz, die aus der Laufkäferart Lytta vesicatoria gewonnen wird) und etwas Rizinusöl nachweisbar waren.[18]
Zu den seriösesten Ingredienzen der damaligen Haarwuchsmittel gehören reizende und damit durchblutungsfördernde Mittel (etwa Capsicum- (Chili-)Extrakte und die erwähnte Cantharidentinktur), die eventuell die Ernährung der Haarfollikel etwas verbessern, andererseits aber auch regelrechte Entzündungen der Kopfhaut verursachen konnten. Ebenfalls häufig angewendet wurden Keratolytika wie Salizylsäure und Resorcin – dies war offenbar der Hypothese geschuldet, Haarausfall resultiere aus einer schuppenden Verkrustung der Kopfhaut.[19]
Wirklich Alopezie-bremsende Effekte der genutzten Wirkstoffe sind nicht wahrscheinlich.
1.5 Moderne Technik – im Dienste des Haarwuchses?
Elektrizität, Radiowellen, Radioaktivität – im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts war man überzeugt, mit den phantastischen technischen Neuerungen und Entdeckungen der letzten Jahrzehnte ließen sich nun wirklich alle Probleme der Menschheit binnen kürzestem lösen. Und natürlich erdachten die unermüdlichen Erfinder dieser Jahre auch zahlreiche Apparate, um den Haarwuchs zu befördern. Zeitgenössische Varianten der heutigen Laserhelme, Massagegeräte und leuchtenden und/oder vibrierenden elektrischen Haarbürsten gab es vor allem in Amerika ab den 1920er Jahren reichlich.
Darunter befanden sich Perlen wie das X-ER-VAC-Gerät[20]: Ein Helm, der versprach, die Kopfhaut durch abwechselnden Über- und Unterdruck zum Bilden neuer Haare zu stimulieren, ersonnen übrigens von dem recht berühmten Erfinder, Radio- und Autofabrikant Powell Crosley Jr., der offenbar von der Wirksamkeit des Geräts überzeugt war und es selbst regelmäßig anwandte (ohne durchschlagenden Effekt, wie Fotos des erfolgreichen Unternehmers aus Cincinatti nahelegen).
1.6 Wissenschaftlich getestet – eine Lektion aus der jüngeren Vergangenheit
Angesichts der abstrusen Zutaten vergangener Haarwuchs-Wundermittel fühlen wir uns amüsiert und verwundert – wie konnte man nur diesen Unsinn glauben? Heute fühlen wir uns gründlich gefeit davor, auf Taubenkot, Käfergift oder parfümiertes Wasser hereinzufallen. Mit der Kraft der Wissenschaft im Rücken sind wir doch ganz sicher in der Lage, zwischen wirksamen und unwirksamen Mitteln zu unterscheiden?!
Schauen wir uns einmal eine 1964 erschienene Printannonce (“Retten Sie ihr Haar!“) für die auch heute noch im Handel befindliche Haartinktur Neo Silvikrin an.[21]
Neo Silvikrin enthält “alle 18 Aufbaustoffe des Haares“, die in der Annonce auch aufgelistet werden. Es handelt sich um die Aminosäuren, aus denen sich das Haarprotein Keratin zusammensetzt – also definitiv kein Eidechsenöl. In der Annonce wird nun erklärt, es sei wissenschaftlich nachgewiesen, dass die Wirkstoffe von Neo Silvikrin bis in die Haarwurzeln gelangen und in das wachsende Haar eingebaut werden. Zum Nachweis, so heißt es, “wurde Neo Silvikrin radioaktiv gemacht und in die Haut einmassiert. Das nachwachsende Haar wurde nach einiger Zeit mit Hilfe des Geigerzählers auf Radioaktivität getestet. <...> Damit war wissenschaftlich einwandfrei erwiesen, dass die Wirkstoffe von Neo Silvikrin bis in die Haarwurzeln gelangen und im neu nachwachsenden Haar enthalten sind!“ Dazu wird, ganz wissenschaftlich, auf eine Fachpublikation im Biochemical Journal verwiesen. Illustriert wird das Ganze mit einer schematischen Zeichnung wie aus dem Biologielehrbuch und einem Foto eines ernsten Wissenschaftlers, der sich über ein Gerät beugt.
Also das ist doch mit Sicherheit seriös. Oder?
Die Idee, den Haarwurzeln direkt über die Haut Aminosäuren zuzuführen, ist natürlich an sich überhaupt nicht unseriös, und ihre Erprobung ebenfalls nicht. Die Forschung weiß natürlich schon länger ziemlich genau, dass die androgenbedingte Degeneration der Haarfollikel durch Zufuhr von Nährstoffen nicht aufgehalten werden kann, aber zu Zeiten der beschriebenen Annonce war das noch nicht ganz so klar. Trotzdem war diese Annonce auch damals schon unseriös.
1. Macht man sich die Mühe, den zitierten Artikel im Biochemical Journal (erschienen im August 1954) nachzulesen, stellt man fest, dass dort weder von Neo Silvikrin noch von Haarverlust die Rede ist. Der Artikel heißt “Die Absorption von Methionin durch die Haut des Meerschweinchens“ und beschreibt Versuche mit der radioaktiv markierten Aminosäure Methionin, die den gesunden Versuchstieren in jeweils gleicher Menge mit dem Futter, durch Injektion bzw. Einmassieren in die Haut zugeführt wurde.[22] In allen drei Varianten fand sich wie erwartet Radioaktivität in Haarproben der Tiere, allerdings war es bei den mit radioaktivem Methionin gefütterten Tieren mehr als doppelt so viel wie bei denen, denen die Aminosäure über die Haut zugeführt wurde. Am effizientesten brachten intramuskuläre Injektionen die Aminosäure ins Haar.
Der Artikel kann also als Nachweis gelten, dass eine der 18 Aminosäuren von Neo Silvikrin auch über die Haut aufgenommen werden kann. Gleichzeitig weist er aber klar nach, dass das keineswegs der effizienteste Weg ihrer Zufuhr ist. Man könnte also ebenso gut oder eigentlich besser schlussfolgern, dass es sinnvoller wäre, die Aminosäuren zu essen als in die Haut einzumassieren.
2. Sehr problematisch ist die in der Annonce betriebene Verschiebung des Problems: Es mag ja in der Tat sein, dass die in die Kopfhaut einmassierten Aminosäuren in Haaren gesunder Follikel auftauchen. Über die Wirksamkeit von Neo Silvikrin gegen Haarverlust sagt das aber gar nichts aus. Ob eine Zufuhr dieser Aminosäuren gegen die für den Haarausfall ursächliche Degeneration der Follikel hilft, ist eine Frage, die der zitierte wissenschaftliche Artikel überhaupt nicht berührt. Über diese wichtige Unsicherheit geht der Annoncentext souverän hinweg.
1.7 Haar-Meilensteine des 20. Jahrhunderts
Anatomisch wusste man über die Haarfollikel und ihren Zyklus schon gut Bescheid, seit diese winzigen Organe unter dem Mikroskop untersucht werden konnten. Ein eindrucksvoller Abriss, dem auch heute kaum etwas hinzuzufügen ist, findet sich in dem von dem Berliner Dermatologen Felix Pinkus verfassten Buchkapitel „Die normale Anatomie der Haut“ von 1927.[23]
Als Geburtsstunde der ganz modernen Haarforschung gilt vielen Forschern dann die Veröffentlichung des Übersichtsartikels „Growth of the Hair“ von Herman B. Chase im Jahr 1954.[24]
Chase stellt eine ganz wichtige Frage, die seitdem intensiv erforscht wurde … und immer noch nicht abschließend beantwortet ist: die nach dem internen biochemischen Steuermechanismus, der die Länge von Wachstums- und Ruhephasen der Haarfollikel bestimmt.
Ein weiterer wichtiger Meilenstein waren die Arbeiten der amerikanischen Endokrinologin (“Hormonforscherin“) Julianne Imperato-McGinley. In den 1970er Jahren wurde die Forscherin auf Familien in dem abgelegenen dominikanischen Dorf Salinas aufmerksam, in denen bereits viele Jahre lang in Abständen scheinbar Mädchen geboren wurden, die sich mit Einsetzen der Pubertät in Jungen verwandelten. Tatsächlich hatten die Kinder von Beginn an Penis und Hoden gehabt, die jedoch aufgrund des nicht erfolgten Hodenabstiegs aus dem Körperinnern und der außerordentlichen Kleinheit des Penis' nicht bemerkt worden waren. Die lokal Guevedoces (“Eier mit 12“) genannten Jugendlichen entwickelten während der Pubertät viele typisch männliche Eigenschaften: Ihre Stimmen wurden tief, ihre Körper muskulös, und ihre Genitalien wuchsen zu (fast) normaler Größe heran. Die meisten lebten als Männer weiter, auch wenn einige unfruchtbar blieben. Imperato-McGinleys 1974 im renommierten Fachblatt Science veröffentlichter Arbeitsbericht[25] führte den gesamten Komplex von Erscheinungen auf das infolge einer genetischen Mutation auftretende Fehlen des Enzyms 5α-Reduktase zurück, das Testosteron in Dihydrotestosteron umwandelt. Dass die Guevedoces nie ihr Haar verloren, erwähnte die Arbeit am Rande. Dieser Fakt wurde zur Grundlage weiterer Einsichten in die Mechanismen männlichen Haarverlusts – und für den Pharmariesen Merck zur Inspiration für die Entwicklung des Haarwuchs-Wirkstoffs Finasterid.
1.7.1 Haartransplantationen – von den ersten Versuchen zur ausgereiften Technik
1897: Das erste naive Experiment
Der allererste Versuch einer Haartransplantation wurde 1897 in Istanbul von einem Militärarzt namens Dr. Menahem Hodara durchgeführt. Hodara behandelte einige junge Mädchen, die infolge einer Pilzinfektion (Tinea capitis) haarlose Stellen am Kopf hatten. Der Arzt ritzte diese Stellen gitterartig ein und pflanzte in die entstandenen Furchen kurze Stückchen von mit einer Schere zerschnittenen Haarschäften ein (wohlgemerkt: keine Follikel). Er bedeckte die Stellen mit Papier und einem Gipsverband, bei dessen Entfernung nach vier Wochen er feststellte, dass einige der eingepflanzten Haare angewachsen waren.[26]
Hodaras in einer deutschen Fachpublikation veröffentlichte Arbeit wurde von der Laienpresse ausführlich bejubelt, von Fachkollegen jedoch zunächst ignoriert und später scharf kritisiert (vom heutigen Standpunkt aus erscheint es praktisch undenkbar, dass seine Methode funktioniert haben könnte).
1939: Dr. Okuda wird fast übersehen
Die ersten ausführlichen Berichte von gelungenen Haartransplantationen stammten von einem japanischen Dermatologen und fielen ziemlich genau mit dem Beginn des 2. Weltkriegs zusammen. Da hatte man offensichtlich andere Sorgen, und die von Dr. Shoji Okuda 1939 in japanischer Sprache in einer japanischen dermatologischen Fachzeitschrift publizierten Ergebnisse fanden so gut wie keine Beachtung.
Erst im Jahr 2004 wurde in Amerika eine handschriftliche englische Übersetzung der Arbeit verfügbar.[27]
Aber auch danach dauerte es noch ein paar Jahre, bis Okudas Leistung tatsächlich gewürdigt wurde.[28]
Wäre seine insgesamt 50-seitige Publikation früher international zur Kenntnis genommen worden, hätte sie die Geschichte der Haartransplantation wahrscheinlich um einiges beschleunigt.
Die Artikelserie beschreibt Okudas Methode und seine Testreihen mit Verpflanzungen von Stanz-Transplantaten verschiedener Größe zwischen verschiedenen Körperregionen bei menschlichen Versuchspersonen sowie in Tierexperimenten sehr detailliert und nimmt einige Ergebnisse vorweg, die in späteren Jahren erneut gefunden wurden (Transplantationen zwischen verschiedenen Personen funktionieren nicht, der Hinterkopf ist der beste Haardonor, transplantierte Haare behalten am neuen Ort viele ihrer originalen Eigenschaften).
1952-59: Dr. Orentreich geht es beinahe genauso
In der übrigen Welt herrschte bis in die späten 1950er Jahre die Meinung vor, dass die auf eine von Haarausfall betroffene Stelle transplantierten Follikel ebenso “eingehen“ müssten wie ihre original dort beheimateten Vorgänger. Dem New Yorker Dermatologen Dr. Norman Orentreich gelang erstmals in der amerikanischen Forschungslandschaft der Nachweis, dass die Haarfollikel von Stanz-Transplantaten auch am neuen Ort ihre alten Eigenschaften weitgehend behielten und prägte dafür den Begriff der Donor-Dominanz: Ausgestanzte Transplantate vom behaarten Hinterkopf sorgten auch am kahlen Haaransatz für Haarwachstum, während ihre Pendants auch am haargesunden Hinterkopf nicht wieder zu neuer Blüte gelangten.[29] Die ersten Ergebnisse erzielte Dr. Orentreich bereits 1952; aufgrund der Skepsis seiner Kollegen gelang die Publikation aber erst 1959.[30]
Ab 1980: Bemühungen um ein natürlicheres Behandlungsergebnis
Damit waren die Grundlagen für die medizinische Haartransplantation gelegt. Allerdings wurde die Methode der relativ großen Stanz-Transplantate, die ästhetisch eher weniger überzeugende, wegen der relativ großen Abstände zwischen den transplantierten Haarbüscheln an einen Puppenkopf erinnernde Ergebnisse lieferte, ab den 1980er Jahren durch immer kleiner werdende transplantierte Einheiten ersetzt – vom sogenannten Micro-Graft bis zur Implantation sogenannter Follicular Units, von denen heute bis zu 50 in einen Quadratzentimeter Kopfhaut gepflanzt werden können.
Weitere Verfeinerungen erfuhr die Technik der Haartransplantation durch die Berücksichtigung von Wuchswinkel und Orientierung der einzelnen Transplantate. Damit ist es heute möglich geworden, ausgesprochen natürlich wirkende Ergebnisse zu erzielen.
1.7.2 Minoxidil: Das erste wirksame Haarwuchsmittel der evidenzbasierten Medizin
Wie die der „Wunderpille“ Viagra war auch die Entdeckung von Minoxidil als Haarwuchsmittel der reine Zufall: Minoxidil war für einen ganz anderen Zweck gedacht; die follikelstimulierenden Eigenschaften traten als Nebenwirkung auf. Das Medikament hatte da schon eine Mini-Odyssee hinter sich. In den späten 1950er Jahren war der Wirkstoff durch das Pharmaunternehmen Upjohn (gehört heute zu Pfizer) zur Behandlung von Magengeschwüren entwickelt worden, hatte sich für diese Indikation im Tierexperiment jedoch gar nicht bewährt, dagegen aber eine ausgeprägte gefäßerweiternde Wirkung gezeigt.
Infolgedessen war Minoxidil 1979 in den USA und 1982 in Deutschland als Blutdrucksenker zugelassen worden. Bei einer im Rahmen des Zulassungsverfahrens durchgeführten klinischen Studie hatte sich unerwartetes Haarwachstum als Nebenwirkung der Behandlung gezeigt (die Studie erwähnt “moderate Hypertrichose“, also ein gesteigertes Haarwachstum, bei fünf von den acht Patienten, die den Wirkstoff länger als zwei Monate eingenommen hatten).[31]
Nachdem darüber in der Fachpresse quasi in einem Nebensatz berichtet worden war, stellten amerikanische Dermatologen offenbar schon in den 1980er Jahren hunderttausenden von Patienten gegen Haarausfall eigenverantwortlich Lotionen mit pulverisierten Minoxidil-Tabletten in off-label Nutzung zur Verfügung.[32][33]
1988 wurde Minoxidil in den USA dann offiziell zur lokalen Behandlung von Haarverlusten (also zum Einmassieren in die Kopfhaut) zugelassen und ist dort seitdem unter dem Handelsnamen Rogaine im Handel. Die amerikanische Medizinbehörde hielt den Namensvorschlag Regain (“Wiedererlangen“) für unseriös, da die topische Anwendung in den vor der Zulassung durchgeführten Studien im Schnitt nur etwa bei einem Drittel der Probanden deutliche Ergebnisse zeigte (in Europa wird Minoxidil gegen Haarverlust dagegen als Regaine verkauft).[34][35][36]
Ein Drittel – das war immerhin um Größenordnungen mehr, als jedes andere Haarwuchsmittel in der Geschichte der Menschheit für sich verbuchen konnte. Also wirklich eine kleine Revolution. Und zwar sowohl auf wie in den Köpfen: Rogaine dürfte auch eines der ersten Mittel gewesen sein, das die wirksame medizinische Behandlung einer harmlosen, aber sozial unerwünschten körperlichen Veränderung ermöglichte.
Seit 2005 ist Regaine auch in Deutschland rezeptfrei erhältlich.
1.7.3 Finasterid
Mit Finasterid wiederholte sich die Geschichte von Minoxidil in Teilen. Auch hier handelte es sich um einen Wirkstoff, der zunächst für einen anderen Zweck eingesetzt worden war. Unter dem Namen Proscar war Finasterid seit 1992 zur Behandlung gutartiger Prostatavergrößerungen auf dem Markt. Die präventive Wirkung gegen Haarverlust des Medikaments war jedoch diesmal keine Überraschung.
Man wusste aus Beobachtungen an Männern mit einem durch einen Defekt des Enzyms 5-α-Reduktase ausgelösten Mangel an Dihydrotestosteron, dass diese sowohl eine kleine Prostata als auch die vollkommene Abwesenheit der typischen Haarverluste nach männlichem Muster aufwiesen. Bei der Entwicklung von Finasterid durch Forscher des Pharmaunternehmens Merck wurde nach einem Hemmstoff für 5-α-Reduktase gesucht, der die Wirkung des gerade beschriebenen Enzymdefekts auf kleinerer Skala reproduzieren würde. Dass der in erster Linie interessante Effekt auf die Prostata von einer Wirkung auf den Haarwuchs begleitet sein würde, war bereits vermutet worden – und bestätigte sich bei der Anwendung von Proscar.
Seit 1997 ist Finasterid in den USA unter dem Markennamen Propecia als Mittel gegen Haarverluste zugelassen; die Zulassung für Deutschland folgte 1999[37].
(1) sae.saw-leipzig.de/detail/dokument/papyrus-ebers/
(2) academic.oup.com/jcem/article-abstract/20/10/1309/2719329
(8) archive.org/stream/physicianandsur02unkngoog/physicianandsur02unkngoog_djvu.txt
(17) 1200.hildesheimer-allgemeine.de/note/tag-xxx-sebalds-wundersame-haartinktur/
(20) www.mediaheritage.com/curing-baldness-in-the-1930s/
(21) www.e-periodica.ch/cntmng
(22) www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC1269799/
(24) www.physiology.org/doi/pdf/10.1152/physrev.1954.34.1.113
(25) science.sciencemag.org/content/186/4170/1213.long
(26) www.ijdvl.com/article.asp
(27) www.ishrs.org/content/okuda-papers-0
(28) onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1111/exd.12628
(29) nyaspubs.onlinelibrary.wiley.com/doi/abs/10.1111/j.1749-6632.1960.tb40920.x
(31) circ.ahajournals.org/content/45/3/571
(32) www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC1340924/
(34) www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/3883902
(35) www.sciencedirect.com/science/article/pii/S000296291536972X
(36) www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/3770260
(37) www.deutsche-apotheker-zeitung.de/daz-az/1999/daz-6-1999/uid-4615