3. Formen und Ursachen von Haarausfall
Der Verlust des Kopfhaars kann viele Formen annehmen – von der diffusen Auslichtung des Haares über klar umgrenzte kleine haarlose Stellen bis hin zu ausgedehnten scheinbar kahlen Bereichen. In den folgenden Abschnitten werden wir die Haarverluste unterschiedlicher Formen und Ursachen genauer unter die Lupe nehmen.
Vorerst allerdings noch eine Bemerkung: Auch wenn es so aussehen mag – selbst scheinbar kahle Stellen sind bei den häufigsten Formen von Haarverlust nicht wirklich haarlos. Haarfollikel sind nämlich, salopp gesagt, nur schwer ganz totzukriegen (dafür müssen die Stammzellen des Follikels zerstört werden). Auch auf vielen Glatzen finden sich deshalb aktive Follikel in normaler Dichte – nur sind sie leider dazu übergegangen, anstelle von dickem, langem, pigmentiertem Terminalhaar dünnes, kurzes, kaum pigmentiertes und daher praktisch „unsichtbares“ Vellushaar zu produzieren.
Das darf Sie im manchen Fällen durchaus optimistisch stimmen: Bei vielen Formen von Haarausfall normalisieren sich die Follikel wieder, sobald die Ursache (eine medikamentöse Behandlung, Stress, eine Schilddrüsenerkrankung) beseitigt bzw. unter Kontrolle ist. Allerdings: Bei der häufigsten Ursache von Haarverlust, der androgenbedingten Alopezie, ist eine spontane Normalisierung leider nicht zu erwarten. Welche Möglichkeiten es gibt, androgenbedingte Haarverluste aufzuhalten bzw. zu behandeln, lesen Sie in einem weiteren Abschnitt.
Inhalt
3.1 Alopezie und Effluvium: Am Anfang eine Begriffsklärung
3.2 Androgenbedingter Haarverlust
3.2.1 Symptome der androgenetischen Alopezie
3.2.2 Was sind die Ursachen des androgenbedingten Haarverlusts?
3.2.3 Was passiert bei der androgenetischen Alopezie?
3.2.4 Können auch Frauen androgenetische Alopezie bekommen?
3.2.5 Behandlung von androgenetischem Haarverlust
3.3.1 Wie häufig ist Alopecia areata?
3.3.2 Was sind die Ursachen der Alopecia areata?
3.3.3 Lässt sich Alopecia areata behandeln?
3.4.1 Diffuser Haarausfall durch Medikamente
3.4.2 Diffuser Haarausfall durch Hormonschwankungen
3.4.3 Diffuser Haarausfall durch Schilddrüsenerkrankungen
3.5 Vernarbende Alopezien: Lichen, Lupus, Tinea capitis, Traktionsalopezie
3.1 Alopezie und Effluvium: Am Anfang eine Begriffsklärung
Wer Informationen über Haarausfall sucht, stößt immer wieder auf die Wörter Alopezie und Effluvium. Was bedeuten sie?
Die beiden Begriffe beheben eine gewisse Unklarheit, die im umgangssprachlichen Gebrauch des Worts Haarausfall steckt. Wer von Haarausfall spricht, meint entweder tatsächlich, dass ihm oder ihr mehr Haare ausfallen als gewöhnlich. Oder es geht eigentlich weniger um ausfallendes als um fehlendes Haar.
Gerade der männliche androgenetische Haarverlust (das Entstehen von Glatze und Geheimratsecken) und sein weibliches Pendant sind meist nicht von merklich verstärktem Haarausfall begleitet. Hier entsteht die Ausdünnung des Haars in erster Linie durch eine im Verlauf mehrerer Follikelzyklen allmählich stattfindende Miniaturisierung der Haarfollikel und der von ihnen produzierten Haare.
3.1.1 Alopezie
Alopezie wird, ganz salopp gesagt, im Sinne von “weniger Haar als normal“ verwendet. Wie es zum Verlust des Haars gekommen ist, darüber sagt der Begriff nichts aus. (Wenn der Dermatologe also bei Ihnen eine Alopezie diagnostiziert, sagt er Ihnen im Grunde nichts, was Sie noch nicht wissen: Sie haben schütteres Haar.) Die Alopezie ist der haarlose oder haararme Zustand der behaarten Kopfhaut. Eine Alopezie ist häufig – und eben nicht in jedem Fall die Folge von verstärktem Haarausfall. Umgekehrt führt verstärkter Haarausfall, sofern er nicht längere Zeit anhält, gar nicht notwendig zu einer Alopezie.
Aber was ist “weniger Haar als normal“? Diesseits der offensichtlichen Kahlheit gibt es natürlich fließende Übergänge vom lediglich dünnen Haar zur Alopezie. Bei nur stellenweise auftretenden Alopezien kann die Haardichte zwischen erkrankten und gesunden Kopfhautarealen verglichen werden. Ist das nicht möglich, kann man sich an Richtwerte halten. Normal sind 180 bis 300 Haare pro Quadratzentimeter Kopfhaut. Für blondes Haar liegen typische Haardichten tendenziell eher im Bereich der höheren Werte, für schwarzes und rotes Haar eher bei den kleineren Zahlen. Mit zunehmendem Lebensalter nimmt die Haardichte langsam ab; auch das ist normal.
Der Begriff Alopezie wird Ihnen auf diesen Seiten häufig begegnen: Die meisten Krankheitsbilder (oder Beschwerdebilder ... nicht jeder Haarverlust hat Krankheitswert) rund um den Haarverlust werden so genannt. So sprechen Mediziner von der androgenetischen Alopezie, von der Alopecia areata, von der Alopecia diffusa oder von der vernarbenden Alopezie.
3.1.2 Effluvium
Effluvium ist der medizinische Fachbegriff für Haarausfall. Wenn Ihnen beim Kämmen, Waschen und “einfach so“ im Alltag mehr Haare ausgehen als normal, wird das als Effluvium bezeichnet.
Auch hier stellt sich wieder die Frage, was normal ist. Und auch hier können sich Ärzte und Betroffene an Richtwerten orientieren: Als normal gilt es, wenn bis zu 100 oder 150 Haare täglich ausgehen. Die 100 gilt dabei für dünneres, die 150 für dichteres Haar. Beim Haarewaschen können es sogar um die 300 Haare sein. Natürlich ist das Zählen der Haare im Kamm, auf dem Kopfkissen oder im Badewannenabfluss niemals richtig genau – meist werden Sie die Zahl der ausgehenden Haare so ein wenig unterschätzen.
Haben Sie den Verdacht, dass Sie unter Haarausfall leiden, wird der Dermatologe zunächst den Haarzupftest durchführen und dann, wenn Sie es wünschen, mit einem Trichogramm bzw. Tricho-Scan den momentanen Status Ihrer Haarfollikel analysieren. Können dabei keine Unregelmäßigkeiten gefunden werden, können Sie davon ausgehen, dass im Moment kein Grund zur Besorgnis besteht: Vielleicht haben Sie die ausgefallene Haarmenge doch überschätzt?
Ein auffälliges Trichogramm spricht dafür, dass tatsächlich Effluvium besteht, und erlaubt eine zusätzliche Unterscheidung, nämlich die zwischen anagenem und telogenem Effluvium.
Anagenes Effluvium
Beim anagenen Effluvium gehen Haare aus, die sich eigentlich mitten in ihrer Wachstumsphase befinden.[1] Der Grund ist meist eine wenige Tage bis maximal einen Monat zurückliegende akute Schädigung der Haarfollikel durch physikalische Einflüsse, Toxine, Medikamente oder körpereigene Substanzen, die die Zellteilung stören oder unterbinden. Das in den der Schädigung folgenden Tagen von den Follikeln produzierte Haar hat eine anormale, geschwächte Struktur und neigt daher dazu, abzubrechen.
Da sich stets der überwiegende Teil des Kopfhaars in der Wachstumsphase befindet (bei gesundem Haar 90 %, und auch bei Störungen des Haarzyklus immer noch weit über die Hälfte), kann das anagene Effluvium Betroffene mit sehr großen Mengen ausfallender Haare bis hin zur praktisch vollständigen Haarlosigkeit erschrecken. Achtzig bis neunzig Prozent Haarverlust sind typisch.
Die am besten bekannten Auslöser des anagenen Effluviums sind Bestrahlung oder Chemotherapie bei Krebserkrankungen. Nicht alle bei Chemotherapien eingesetzten Zytostatika führen zu Haarausfall, aber doch eine ganze Reihe von ihnen (insbesondere Doxorubicin, Daunorubicin, Paclitaxel, Docetaxel, Cyclophosphamid, Ifosfamid, Etoposid, Mechlorethamin, Methotrexat und Bleomycin[2]). Weitere mögliche Ursachen sind extreme Mangelernährung mit Protein- und Kalorienmangel, eine Vergiftung mit Schwermetallen wie Thallium oder Quecksilber (dann zeigen sich meist auch andere Vergiftungssymptome) und Nebenwirkungen hoch dosierter Medikamente. Aggressive entzündliche Erkrankungen der Haarfollikel bzw. der sie umgebenden Haut (Alopecia areata, systemischer Lupus erythematodes) lösen ebenfalls Anagen-Effluvium aus.
Viele toxische Einflüsse, die zum anagenen Effluvium führen, schädigen nur das aktuell teilungsaktive Gewebe der Haarfollikel, während die „schlummernden“ Stammzellen, aus denen sich der Follikel in seiner nächsten Wachstumsphase wieder regenerieren kann, intakt bleiben. (Eine Ausnahme sind hochdosierte radioaktive und Röntgenstrahlen, die auch die Stammzellen angreifen können.) Daher setzt, sofern es nicht zu erneuten schädigenden Einflüssen kommt, nach einem bis drei Monaten gewöhnlich neues Haarwachstum ein. Infolge von Veränderungen der inneren Wurzelscheide oder der Melanozyten der Haarfollikel kann das neue Haar dicker oder feiner, lockiger, glatter oder grauer nachwachsen als zuvor.
Überwiegend bei Kindern bis zum Alter von sechs Jahren tritt das sogenannte Loose Anagen Syndrome auf: Hier ist das Haar nicht fest in der Wurzelscheide des Follikels verankert und lässt sich daher auch während der Wachstumsphase ohne Kraftaufwand schmerzfrei herausziehen – was natürlich zu hohen Verlusten von Anagenhaar in vielen alltäglichen Situationen führt. Ursache sind vermutlich genetisch bedingte Abnormitäten in der Auskleidung der inneren Wurzelscheide. Das Problem verschwindet meist in späteren Jahren – Mediziner vermuten, dass der in der Pubertät zunehmende Einfluss der Androgene die Follikelstruktur stabilisiert.[3]
Telogenes Effluvium
Telogenes Effluvium ist die wichtigste und häufigste Form von Haarausfall.[1] Die Diagnose “Telogenes Effluvium“ bestätigt, dass Haarausfall vorliegt. Sie grenzt die möglichen Gründe des Haarausfalls ein, indem sie die typischen Ursachen für anagenes Effluvium weitgehend ausschließt – weist aber darüber hinaus noch nicht auf die Ursache des Problems oder auf erfolgversprechende Behandlungsansätze hin. Telogenes Effluvium kann sehr vielfältige Ursachen haben. Genauere Aussagen ermöglicht erst die weitere Diagnostik.
Beim Telogen-Effluvium gehen Haare aus, die sich in der Ruhephase befinden. Das Muster des Haarverlusts ist in der Regel diffus über den gesamten Kopf verteilt. Die ausfallenden oder für die Diagnostik ausgezupften Haare sind nicht geschädigt: Sie sind nicht abgebrochen und weisen keinen abnorm geformten oder verschmälerten Haarschaft auf.
Telogenes Effluvium ist nie so dramatisch wie Anagen-Effluvium, da der (immer erhebliche) Anteil des Kopfhaars, der sich in der Wachstumsphase befindet, nicht betroffen ist. Das Ausmaß des Haarverlusts durch Phasen von Telogen-Effluvium liegt je nach auslösender Ursache etwa zwischen 20 und 50 % des Kopfhaars.
Ein akutes telogenes Effluvium macht sich erst zwei bis vier Monate nach dem auslösenden Ereignis (bzw. dem Beginn eines kontinuierlichen schädigenden Einflusses) bemerkbar, was die Diagnostik erschweren kann. Ein breites Spektrum möglicher Trigger kommt in Frage – und es kann vorkommen, dass sich die Ursache trotz weitreichender diagnostischer Bemühungen nicht ermitteln lässt .
Zum Verständnis des Telogen-Effluviums ist wichtig zu wissen, dass Telogenhaare ohnehin ausgehen – spätestens zum Ende der Ruhephase bzw. zum Beginn der neuen Wachstumsphase. Die 100 bis 150 Haare, die Sie täglich unbesorgt verlieren dürfen, sind ganz überwiegend Telogenhaare.
Ein merklich verstärkter Ausfall von Telogenhaaren ist im Allgemeinen ein Symptom einer momentanen, längerfristigen oder chronischen Störung des Haarzyklus. Meist hat er seine Ursache in einer Verkürzung der Wachstumsphase der Follikel. Paradoxerweise kann aber auch eine plötzliche Verkürzung der Ruhephase der Haarfollikel zu zeitweise verstärktem Haarausfall führen.
Telogenes Effluvium durch Verkürzung der Anagenphase
Telogenes Effluvium resultiert, wenn sich aktuell mehr Haarfollikel als normal in der Ruhephase befinden. Der Anteil der täglich ausgehenden Telogenhaare hat sich zwar nicht erhöht – aber die erhöhte Gesamtzahl der Telogenhaare führt dazu, dass Sie trotzdem mehr ausgehende Haare bemerken.
Der erhöhte Anteil von Telogenhaaren kann das Resultat eines einmaligen Trigger-Ereignisses sein (z.B. Stress oder eine fiebrige Erkrankung) – dann ist eine große Anzahl von Haarfollikeln synchronisiert von der Wachstums- in die Ruhephase übergegangen. Die Länge zukünftiger Wachstumsphasen bleibt durch das Trigger-Ereignis unbeeinflusst, daher normalisiert sich die Haardichte nach einigen Monaten ohne weiteres Zutun wieder.
Alternativ kann sich die Wachstumsphase der Haarfollikel aufgrund von hormonellen Veränderungen, infolge einer langfristigen medikamentösen Behandlung, eventuell auch aufgrund von Nährstoffmangel oder anderen, ungeklärten Veränderungen im Organismus (z.B. unspezifischen körperlichen Entzündungsprozessen) generell verkürzen. Sofern es nicht möglich ist, die zugrundeliegende Ursache zu beseitigen, bleibt der Anteil der Telogenhaare langfristig erhöht – obwohl sich auch hier nach etwa sechs Monaten meist ein neues Gleichgewicht mit ausgedünntem Haar, aber weniger Haarverlusten einstellt.
Telogenes Effluvium durch Verkürzung der Telogenphase
Ein temporäres telogenes Effluvium kann sich auch einstellen, wenn sich die Ruhephase der Follikel verkürzt. Treten viele Haarfollikel synchronisiert aus der Ruhephase in die neue Wachstumsphase ein, kommt es zu erhöhtem Ausfall von Telogenhaar, weil die in größerer Anzahl als zuvor neu wachsenden Haare die alten Telogenhaare aus den Follikeln drängen. Diese Art von Effluvium kann als paradoxes Symptom einige Zeit nach dem Beginn einer Behandlung mit dem Haarwuchsmittel Minoxidil auftreten und wird tatsächlich als Zeichen dafür interpretiert, dass die Behandlung wirkt.
3.2 Androgenbedingter Haarverlust
Der androgenbedingte, erbliche Haarverlust (medizinisch auch androgenetische Alopezie genannt) ist der wohlbekannte Haarverlust ohne Krankheitswert, der letztlich etwa 80 Prozent aller Männer europäischer Abstammung in mehr oder weniger starker Ausprägung trifft und zur Ausbildung von Geheimratsecken und Glatze führt.
Der Zeitpunkt, zu dem erste Veränderungen bemerkt werden, variiert ebenso wie die Geschwindigkeit des Fortschreitens der Haarverluste. Bei jedem dritten Mann zeigen sich die Symptome bereits vor dem 30. Geburtstag, jeder zweite weist mit 50 sichtbare Haarverluste auf, und bis zum 80. Geburtstag bleibt nur noch etwa einer von fünf von Haarverlust verschont. Im Schnitt vergehen 15 bis 25 Jahre, bis der Prozess seinen Endpunkt erreicht – manche Männer verlieren aber auch ihr gesamtes Haar innerhalb von nur fünf Jahren. Perioden beschleunigten Haarausfalls können sich mit längeren Perioden relativer Stabilisierung abwechseln. Oft fällt nur die zunehmende Ausdünnung des Haars auf, manche Männer bemerken aber auch beim Kämmen oder Waschen eine phasenweise erhöhte Anzahl verlorener Haare.
3.2.1 Symptome der androgenetischen Alopezie
Die androgenetische Alopezie führt zu einem charakteristischen Muster des Haarverlusts: Zunächst zieht sich der Haaransatz an beiden Schläfen weitgehend symmetrisch zurück; es entstehen die sogenannten Geheimratsecken. Es folgt eine diffuse Ausdünnung des Haar im Bereich des Scheitels. Mit der Zeit entsteht und wächst dort eine runde kahle Stelle. Schließen die Geheimratsecken zu dieser unfreiwilligen Tonsur auf, bleibt im vorderen Frontbereich oft noch eine kleine Haarinsel verschont. Mit der weiteren Vergrößerung der haarlosen Areale verschwindet auch diese, ein Halbkreis von Haaren in den unteren Seitenpartien und am Hinterkopf umgibt nun die klassische Glatze. Dieser hat es mit dem Verschwinden oft weniger eilig, kann aber letztlich ebenfalls ausdünnen und verloren gehen. Die aufeinanderfolgenden Stadien des Haarverlusts werden heute meist nach der sogenannten Hamilton-Norwood-Skala klassifiziert und mit Norwood I bis Norwood VII bezeichnet.
Ungeachtet dieses typischen Verlaufs gibt es durchaus individuelle Variationen: Manchmal zeigt sich die kahle Stelle auf dem Scheitel noch vor den Geheimratsecken, oder aber der gesamte Haaransatz zieht sich dramatisch zurück, während das Haar auf dem Scheitel noch längere Zeit dicht bleibt.
3.2.2 Was sind die Ursachen des androgenbedingten Haarverlusts?
Der Name androgenbedingter Haarverlust weist bereits darauf hin: Der Haarausfall ist eine direkte Folge der ganz natürlichen hormonellen Situation. Gesunde Männer mit androgenbedingtem Haarausfall weisen im allgemeinen keinerlei krankheitswertige Veränderungen ihrer Androgenspiegel auf. (Frauen mit androgenbedingtem Haarausfall haben dagegen mitunter – aber auch nicht notwendig – zu hohe Androgenspiegel.)
Krankheitswertig bzw. zumindest deutlich normabweichend sind für Männer eher Hormonwerte, die den Haarausfall verhindern: Bei Männern, die aufgrund angeborener enzymatischer Defekte, wegen einer langfristigen Behandlung mit Antiandrogenen (z.B. bei Prostatakrebs) oder infolge einer Entfernung der Hoden sehr niedrige Spiegel von Testosteron und/oder Dihydrotestosteron haben, kommt es nicht zu Haarausfall bzw. der vor der Behandlung/dem Eingriff bereits manifeste Haarausfall schreitet nicht weiter fort.
Aber natürlich kann man(n) – auch wenn das in Europa bei der Mehrheit der Männer nicht der Fall ist – normale Androgenspiegel haben und trotzdem sein Haar behalten. Was genau in den Haarfollikeln der von androgenetischer Alopezie betroffenen Männer falsch läuft, weiß man tatsächlich immer noch nicht so genau. Klar ist nur: Die Störung ist erblich (die überwiegende Mehrheit der Männer europäischer Abstammung scheint allerdings entsprechend „belastet“ zu sein). Die Vererbung erfolgt aber nicht durch ein einzelnes Gen, sondern multifaktoriell. Über die involvierten Gene ist noch nicht viel bekannt, lediglich bestimmte Veränderungen im Gen für den Androgenrezeptor konnten bisher eindeutig mit einer Neigung zu Haarverlusten in Verbindung gebracht werden.[5]
Der aktuelle Wissensstand zu den konkreten Ursachen der androgenetischen Alopezie lässt sich so zusammenfassen: Ursächlich ist das Hormon Dihydrotestosteron (DHT), das unter anderem in den Zellen der Haarfollikel aus Testosteron gebildet wird. Auch daran ist überhaupt nichts Krankheitswertiges. Mindestens einer der drei Typen des für die Umwandlung zuständigen Enzyms 5α-Reduktase gehört zur Grundausstattung vieler Zellen des Körpers. Im Übrigen ist der DHT-Spiegel bei Männern mit Haarausfall nicht notwendig über den Normwert erhöht – und erhöhte DHT-Spiegel haben auch nicht notwendig Haarausfall zur Folge. Auslösend für den Haarausfall ist also mit hoher Wahrscheinlichkeit die Reaktion der Zellen des Haarfollikels auf das DHT. Aber warum DHT nun ausgerechnet die Follikel des Kopfhaars zum Verkümmern bringt, während Körper- und Barthaar in aller Regel unangefochten weiterwachsen – das kann Ihnen heute noch niemand vernünftig erklären. Klar ist nur: Ohne DHT kein Haarausfall.
Aber lassen Sie uns noch einmal betonen: 5α-Reduktasen sind in der Haut, in Gehirn und Nervensystem, in der Muskulatur, in den Brustdrüsen, in fast allen inneren Organen, bei Männern und Hoden und Prostata und bei Frauen in den Eierstöcken und im Gebärmutterhals zu finden. Neben der Umwandlung von Testosteron in DHT katalysieren diese Enzyme weitere Umwandlungsreaktionen körpereigener Botenstoffe, über deren Rolle nach wie vor viele, viele offene Fragen bestehen. Auch wenn DHT im erwachsenen Organismus eher negativ als positiv auffällt (das Hormon wird neben dem androgenetischen Haarausfall auch mit der gutartigen Prostatavergrößerung in direkte Verbindung gebracht): Es wäre naiv anzunehmen, dass einerseits DHT und andererseits die 5α-Reduktasen keinerlei positive Funktionen im Körper haben.
Zusammenhang mit dem metabolischen Syndrom
Das metabolische Syndrom ist eine in den wohlhabenden Ländern sehr verbreitete Zivilisationskrankheit: So bezeichnet man den Symptomkomplex aus Übergewicht, erhöhten Blutfett- und Blutzuckerwerten, Diabetes bzw. seiner Vorstufe Insulinresistenz, Arteriosklerose und Bluthochdruck, der ernährungs- und lebensstilbedingt auch hierzulande schon über die Hälfte der Erwachsenen plagt.
Ein Zusammenhang zwischen androgenetischem Haarverlust und metabolischem Syndrom wurde und wird verschiedentlich vermutet – schließlich wirkt sich das metabolische Syndrom in komplexer Weise auch auf die Hormonbalance des Körpers aus. Die Frage, ob das metabolische Syndrom in Gruppen von Männern mit androgenetischer Alopezie deutlich häufiger auftritt als in Kontrollgruppen ohne Haarverlust, beantworten mittlerweile mehr Studien positiv als negativ[6] – eine solche Wechselbeziehung existiert also mit einiger Wahrscheinlichkeit. Trotzdem ist davon auszugehen, dass die erbliche Komponente der androgenetischen Alopezie dominiert und die An- oder Abwesenheit des metabolischen Syndroms lediglich bei einer Minderzahl der Männer das Auftreten oder Ausbleiben des Haarverlusts bzw. seine Schwere beeinflusst.
3.2.3 Was passiert bei der androgenetischen Alopezie?
Bei androgenbedingtem Haarverlust kommt es zu einer zunehmenden Miniaturisierung der Haarfollikel der betroffenen Kopfhautzonen und gleichzeitig zu Veränderungen im Zyklus dieser Follikel: Die Follikel wandeln sich von Terminalhaar-produzierenden in Vellushaar-produzierende Organe.[7]
Die Anagenphase (die Wachstumsphase des Haars) verkürzt sich von Zyklus zu Zyklus – aus dem geschrumpften Follikel wachsen folglich nicht nur dünnere, sondern auch kürzere Haare, deren Pigmentgehalt aufgrund der parallel ablaufenden Abnahme der Melanozytenzahl im Follikel ebenfalls abnimmt. Im Gegenzug verlängert sich die Telogenphase (die Ruhephase des Follikels). Entsprechend steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass das Haar im Laufe der Telogenphase spontan ausfällt oder mechanischer Belastung beim Kämmen oder Waschen zum Opfer fällt: Da sich zu jedem Zeitpunkt nun viele Follikel in der Telogenphase befinden, führt das zur Ausdünnung der pro Flächeneinheit gezählten Haare. Im Endstadium des Haarverlusts ist die Anagenphase so kurz, dass das in ihrem Verlauf produzierte Haar eventuell gar nicht mehr über die Kopfhaut herausragt. Auch wenn die Haarfollikel keineswegs “abgestorben“ sind (die Anzahl der lebenden Follikel pro Flächeneinheit bleibt konstant!), entsteht doch der Eindruck von Haarlosigkeit.
3.2.4 Können auch Frauen androgenetische Alopezie bekommen?
Da auch Frauen in individuell unterschiedlichen Mengen Testosteron und entsprechend auch Dihydrotestosteron in ihrem Körper haben, kann es in der Tat auch beim weiblichen Geschlecht zu androgenbedingtem Haarausfall kommen. Dieser geht allerdings nach einem weniger eindeutigen Muster vonstatten als bei Männern. Der Haarverlust nimmt seinen typischen Verlauf in einer Linie, die sich über den gesamten oberen Schädel zieht und mit der Zeit breiter wird, häufig insbesondere zum Haaransatz hin. In dem Zusammenhang wird oft auch das Christmas Tree- (Weihnachtsbaum-) Muster erwähnt: Hier beginnt die Ausdünnung des Haars als Dreieck, dessen Spitze von der Stirn weg zeigt. Andere Verläufe, insbesondere Mischformen von männlicher und weiblicher Alopezie, sind möglich. Meist bleibt es jedoch bei einer deutlichen Ausdünnung des Haares, komplette – auch nur stellenweise – Kahlheit ist selten. Wie beim Mann bleibt auch bei der weiblichen androgenetischen Alopezie das Haarwachstum am Hinterkopf in der Regel weitgehend unbeeinträchtigt.
Da allgemein verbindliche diagnostische Kriterien für den weiblichen androgenetischen Haarverlust noch fehlen, gibt es gewisse Unsicherheiten über die Häufigkeit seines Auftretens. In seltenen schweren Fällen werden erste Anzeichen bereits in der Pubertät bemerkt. Angaben für die Häufigkeit im dritten Lebensjahrzehnt liegen zwischen 3 und 13 Prozent. Mit der Menopause wächst die Prävalenz und liegt für Frauen europäischer Abstammung im siebenten und achten Lebensjahrzehnt in der Größenordnung von 30 bis 50 Prozent.[8]
Auch der weibliche androgenetische Haarverlust hat eine starke direkt erbliche Komponente. Weiterhin gibt es hier eine deutliche Assoziation mit Stoffwechselstörungen: Frauen mit androgenetischem Haarverlust sind auch häufiger vom metabolischen Syndrom[9] und/oder vom polycystischen Ovar-Sydrom[10] betroffen als Frauen ohne Haarverlust. Das polycystische Ovar-Syndrom ist eine Störung der Hormonbalance, die bei 4 bis 12 Prozent der Frauen europäischer Abstammung auftritt (oft, aber keineswegs immer im Zusammenhang mit dem metabolischen Syndrom) und deren Symptome sich rund um einen erhöhten Androgenspiegel entwickeln.
3.2.5 Behandlung von androgenetischem Haarverlust
Die mit den Leitlinien der ärztlichen Fachgesellschaften konforme Standardbehandlung von androgenetischem Haarverlust bei Männern ist heute Minoxidil ,Finasterid oder eine Kombination von beiden Medikamenten. Als zusätzliche relativ gut untersuchte Therapiemöglichkeiten, die die Wirksamkeit der Standardbehandlung erhöhen können, kommen Microneedling, Plättchenreiches Blutplasma oder Lasertherapie in Frage.
Noch nicht zur Behandlung androgenetischer Alopezie zugelassen sind Dutasterid, ein Finasterid-verwandter Wirkstoff, der sich in Studien als wesentlich wirksamer, aber auch nebenwirkungsreicher erwiesen hat, und Latanoprost, ein Prostaglandin F2α-Analog, das heute schon als Bestandteil von Wimpernseren das Wimpernwachstum stimuliert. Dutasterid kann von Dermatologen auf eigenes Risiko in off label-Nutzung verschrieben werden. Von der großflächigen Anwendung von Latanoprost ist bis auf weiteres angesichts des unklaren Nebenwirkungsprofils dringend abzuraten – im Übrigen wäre das auch ein sehr teures Vergnügen. Zu anderen alternativen Therapien liegen keine oder nicht genügend publizierte Studienergebnisse vor, um ihre Wirksamkeit einschätzen zu können. Den einzelnen Methoden haben wir jeweils eigene Abschnitte gewidmet.
Die leitlinienkonforme Standardbehandlung von androgenetischem Haarverlust bei Frauen ist Minoxidil. Microneedling, Plättchenreiches Blutplasma und Lasertherapie spielen als zusätzliche Therapiemöglichkeiten ebenfalls eine Rolle. Bei Frauen können außerdem Androgenrezeptor-Antagonisten zur medikamentösen Therapie der androgenetischen Alopezie eingesetzt werden.
Die androgenetische Alopezie ist der häufigste Anlass für eine Haartransplantation.